Über den Einsatz medienadäquater Präsentationsformen im Fremdsprachenunterricht: Darstellung der Methode und Anmerkungen zum thematisierten Inhalt
Hans W. Giessen (Saarbrücken)
Abstract
(English)
In the study presented
here, Polish students of German as a foreign language were asked to
process content not in only a written, but also in a visual form in
order to facilitate their cognitive understanding. In the present
paper, the experimental procedure is presented along with some
methodological remarks. In the context of the study, questions like
whether German is on the decline in favor of English or of mixed
forms (Germish), were asked. This topic relates to a debate that
might be of importance in the framework of legitimation strategies
for (future) teachers of German, especially German teachers abroad.
The results of the empirical research presented here indicate that
German, contrary to wide-spread stereotypes and prejudices, is rather
resistant to foreign words, even in the context of journalistic
texts. Moreover, it is noticeable that English has an obvious, but
relatively limited influence on German; in the examples discussed
here, there is a clear domination of Greek and Latin as well as
French. The Polish students involved were rather surprised by the
results elaborated here, which contradict commonly held opinions. In
sum, it can be stated that the methodological purpose was achieved:
the visual representation of the information presented was
media-adequate, appropriate, and meaningful.
Keywords:
Germish, etymology, media, visual representation
Abstract
(Deutsch)
Mit
Germanistikstudierenden aus Polen wurden Inhalte so aufbereitet, dass
die Teilnehmer nicht nur schriftliche, sondern auch visuelle
Informationen erhielten. Damit sollten Verstehensprozesse erleichtert
werden. Im vorliegenden Beitrag wird das entsprechende Vorgehen
vorgestellt. Ergänzend findet sich eine Anmerkung bezüglich der
anlassgebenden inhaltlichen Frage: In der Unterrichtseinheit wurde
diskutiert, ob die deutsche Sprache zugunsten des Englischen
beziehungsweise zugunsten von Mischformen (Denglisch) auf dem Rückzug
sei. Somit verweist das Thema auf ein virulentes Diskussionsthema zur
Legitimation des Deutschunterrichts und damit auch zur Legitimation
(künftiger) Deutschlehrer im Ausland. Als Ergebnis einer empirischen
Recherche hat sich gezeigt, dass das Deutsche, entgegen aller
Klischees und Vorurteile, auch im Rahmen journalistischer Texte
(Reportagen) sehr fremdwortresistent ist. Zudem fällt auf, dass das
Englische einen zwar recht auffälligen, insgesamt aber (dennoch)
ausgesprochen begrenzten Einfluss hat. In den Textbeispielen
dominieren deutlich die ,alten’ Sprachen Griechisch und Latein
sowie das Französische. Insgesamt waren die polnischen Studierenden
- auch angesichts der zitierten Klagen - über das Ergebnis sehr
überrascht. Der didaktische Zweck konnte also uneingeschränkt
erreicht werden. Die visuelle Darstellung war medienadäquat,
inhaltlich angemessen und sinnvoll.
Stichwörter:
Denglish, Etymologie, Medienadäquatheit
1 Einleitung
Mit
Germanistikstudierenden aus Polen wurden Inhalte so aufbereitet, dass
die Teilnehmer nicht nur schriftliche, sondern auch visuelle
Informationen erhielten. Damit sollten Verstehensprozesse erleichtert
werden. Im vorliegenden Beitrag das entsprechende Vorgehen
beschrieben. Da dieses Vorgehen eine spezifische und im Kontext
(nicht nur) der Auslandsgermanistik viel diskutierte Frage betraf,
sollen zudem sollen die inhaltlichen Ergebnisse der
Unterrichtseinheit vorgestellt und diskutiert werden. Inhaltlich
bezog sich die Unterrichtseinheit auf die Frage, ob das Deutsche in
der Tat in einem
deutlichen Umfang englische Wörter
aufnimmt, wie immer wieder postuliert (und normativ beklagt) wird;
als prominente Autoren, die entsprechende Befürchtungen zum Ausdruck
bringen, seien aus jüngerer Zeit etwa Wolf Schneider (2008) oder
Jürgen Trabant (2011) genannt. Für die Auslandsgermanistik ist die
Selbstsicht - wie die Bedeutung des Deutschen - natürlich ein
wichtiges Thema. Während im englischsprachigen Raum selbst das
Deutsche als wichtigste Fremdsprache (vor dem Französischen, dem
Spanischen oder anderen Sprachen wie dem Mandarin, dem Arabischen
oder dem Russischen) gewertet wird (Telegraph 2012), herrscht
woanders der Eindruck vor, dass das Deutsche auf dem Rückzug sei;
dies wird insbesondere mit der scheinbar allzu großen Bereitschaft
zur Nutzung von Anglizismen begründet. Es ist also durchaus von
Relevanz zu überprüfen, in wieweit diese Vermutung überhaupt
zutrifft.
Zunächst
mögen einige raumzeitliche Überlegungen der Relativierung dienen.
Dass die eigene Sprache bedroht sei, ist zunächst ein Eindruck, der
sich nicht nur in Deutschland - beziehungsweise bezüglich des
Deutschen - finden lässt (Stegu 2012). In anderen Sprachen gibt es
ebenfalls entsprechende Befürchtungen, insbesondere in der Sprache
des Zielpublikums der Lehreinheit, auf der dieser Beitrag fußt, dem
Polnischen (Szummer 2007). Ähnliche Aussagen lassen sich etwa für
das Französische (Etiemble 1991) oder das (mittel- und
südamerikanische) Spanische (Stavans 2003) finden. Dort wird
übrigens mitunter auch der Einfluss des Deutschen auf die eigene
Sprache beklagt (bereits Canicio 1970, aktueller: Mateos Ortega
2000), was im deutschen Sprachraum häufig übersehen wird.
Die
Befürchtung ist also weder einmalig, noch ist sie neu. Im Deutschen
selbst findet dieses Phänomen derzeit mindestens in seiner dritten
Phase statt. Zunächst waren die traditionellen Bildungssprachen
Griechisch und Latein das Ziel spezifischer Abwehrreaktionen; dies
hatte auch pädagogische Gründe, denn Bildung wurde ein allgemeines
Anliegen (Glaser, Lehmann & Lubos 1997); auch diese
Entwicklung war übrigens nicht auf Deutschland beschränkt
(Eisenstein 1980). Seit dem Dreißigjährigen Krieg dominierte dann
das Französische in Europa (übrigens ebenso in Polen, so dass heute
auch dort mindestens ebenso viele französische Lehnwörter
existieren wie im Deutschen; Ähnliches gilt für Russland und andere
Länder (vgl. dazu die Anmerkungen in Giessen 2007). Vor allem der
deutsche Adel nutzte oft ausschließlich das Französische und lehnte
gar ab, Deutsch zu sprechen, wie nicht zuletzt Friedrich der Große
explizit dargelegt hat (Frédéric le Grand 1780). Zur Abwehr dieses
Einflusses des Französischen bildeten sich wiederum sogenannte
Sprachgesellschaften, die dass Deutsche - erneut - bedroht sahen und
für die Wiederaufwertung kämpfen wollten (Conermann 2008).
Allerdings
hat die deutsche Sprache die zeitweise Dominanz und den daraus
resultierenden Einfluss sowohl der klassischen Sprachen Griechisch
und Latein, wie auch später des Französischen offenbar mit Ausnahme
einzelner Lehnwörter (die dann von Institutionen wie der
Fruchtbringen Gesellschaft bekämpft wurden) und allenfalls
punktuellen Einflüssen auf die Grammatik (etwa hinsichtlich der
Valenzen einzelner Verben) offenbar überstanden, ohne wesentlich
verändert worden oder gar bedroht gewesen zu sein. Es gibt keinen
Grund, anzunehmen, dass dies bezüglich des Englischen anders sei.
Trotz
der raumzeitlichen Relativierung besteht bei vielen Mutter- wie
Fremdsprachlern aber der Eindruck, dass die deutsche Sprache
heutzutage in besonderem - und bis zur Selbstaufgabe reichenden -
Maße vom Englischen bedroht sei.
Aus diesem Grund sollte eine
empirische Überprüfung durchgeführt werden, um valide Aussagen zu
dieser Thematik treffen zu können. Die empirische Untersuchung
sollte sich auf das meistdiskutierte Thema beziehen: den
Wortschatz.
Die
folgende Darstellung thematisiert nun diese Überprüfung. Ziel ist
es vor allem, die Methode darzustellen, denn hier wurde versucht,
eine überzeugende visuelle Aufbereitung zu erreichen. Natürlich
sollen aber auch die Ergebnisse selbst angemessen diskutiert werden.
Der Einfluss des Englischen auf das Deutsche sollte anhand des
meistdiskutierten Themas, des Wortschatzes, dargestellt werden.
Zu
diesem Zweck wurden unter anderem zeitgenössische Texte gesucht; es
lag nahe, unter anderem journalistische Texte zu untersuchen, die in
besonderem Ausmaß das Ziel haben, von möglichst breiten
Bevölkerungsschichten verstanden zu werden. So nennt Weischenberg
(2001) beispielsweise als Ziel journalistischen Schreibens, dass es
den Professor nicht langweilen dürfe, aber auch von der Marktfrau
verstanden werden müsse. Von daher kann davon ausgegangen werden,
dass gerade solche Texte ein allgemein verständliches
Gegenwartsdeutsch wiedergeben und mithin aktuelle sprachliche
Tendenzen widerspiegeln.
Der
formalen Einfachheit halber sollten pro Text zwei Passagen ausgewählt
werden, die jeweils exakt einhundert Wörter umfassen sollten. Die
erste Passage sollte dem Textanfang entstammen, denn gerade am Anfang
versuchen journalistische Autoren, Leser für ihren Artikel zu
interessieren. Die Vermutung war deshalb, dass der Text hier
möglicherweise auch in der Wortwahl vielschichtiger wäre als
spätere Passagen. Andererseits wurde der erste Absatz bewusst
ausgelassen, da journalistische Autoren dort vielleicht allzu
Aufsehen heischend schreiben und mithin auch allzu modisches
Vokabular benutzen. In jedem Fall wurden die ersten 100 Wörter nach
dem ersten Absatz der Untersuchung zugeführt, zudem 100 Wörter
exakt aus der Mitte des jeweiligen Artikels, um noch einmal
einen möglichst ,typischen’ Stil einzufangen.
Die
Artikel mussten also lange genug sein, um eine solche Untersuchung zu
gewährleisten. Ein langer journalistischer Text ist die Reportage
(Lüger 1995). Verschiedene Zeitungen - vor allem Qualitätszeitungen
und –wochenzeitschriften - publizieren regelmäßig lange
Reportagen. Da didaktische Überlegungen die Wahl des Korpus mit
beeinflussten, schied eine Wochenzeitschrift aus. Es wurde eine
Tageszeitung gesucht, die an jedem Wochentag eine solche Reportage
publiziert, damit die Studierenden zeitnah zur Lehrveranstaltung eine
kontinuierliche Serie aus dieser Textgattung erhalten würden. Aus
Praktikabilitätsgründen fiel die Wahl auf die jeden Tag
erscheinende, eine Seite umfassende Reportage der Süddeutschen
Zeitung. Das Korpus umfasst sämtliche Texte der dem Genre
Reportage gewidmeten dritten Seite - die in der Regel eine
ganzseitige Reportage samt dazu passenden Fotos enthält -, die in
der 20. Kalenderwoche 2013 erschienen sind (in der Reihenfolge des
Erscheinens: Klein (13. Mai 2013), Zaschke (14. Mai 2013), Fromm (15.
Mai 2013), Pollmer (16. Mai 2013), Gertz (17. Mai 2013) sowie Winkler
(18. Mai 2013)). Die Länge der Artikel liegt zwischen 2.277 (Gertz,
17. Mai 2013) und 2.623 Wörtern (Zaschke, 14. Mai 2013), das
arithmetische Mittel liegt bei 2.476 Wörtern.
Die
Reportagen sollten nun auf ihren ,Fremdwortgehalt’ hin untersucht
werden. Dabei sollten die Studierenden selbst die Wortetymologie
erarbeiten. Dies geschah mit Hilfe des „Deutschen Wörterbuchs von
Jacob Grimm und Wilhelm Grimm“ sowie der Internetseiten „Wikipedia“
und „Wiktionary“. Als erster Lerneffekt wurde erwartet, dass
derartig recherchierte Wörter als Vokabeln besser haften bleiben.
Zudem übten die Studierenden den Umgang mit Etymologiewörterbüchern
beziehungsweise -websites. In einem weiteren Schritt sollte das
Rechercheergebnis visuell dargestellt werden, um weitere Verstehens-
und Erkenntniseffekte zu erzielen. Dies erschien angebracht, da
kognitiv eine visuelle Verarbeitung schneller und leichter erfolgt
als eine rein textbezogene. Zu diesem Zweck wurden die einzelnen
Wörter farblich markiert. Wörter mit germanischem Ursprung, die
nicht im vergangenen oder in diesem Jahrhundert über das Englische
ins Deutsche gelangt sind, wurden grün unterlegt. Wörter aus den
klassischen Sprachen Griechisch und Latein wurden gelb
beziehungsweise rosa unterlegt. Wörter aus dem Französischen wurden
rot unterlegt; da das Französische eine Auslagerung des Lateinischen
ist, war entscheidend, wie das jeweilige Wort ins Deutsche gelangt
ist. Schließlich wurden Wörter aus dem Englischen, die im
vergangenen und in diesem Jahrhundert ins Deutsche gelangt sind,
blaugrün markiert. Zudem wurden Wörter aus anderen Sprachen violett
markiert. Um die Darstellung hier im Druck zu ermöglichen, werden im
Folgenden Wörter deutschen Ursprungs unverändert gelassen;
lediglich Wörter, die aus anderen Sprachen ins Deutsche gelangt
sind, werden hervorgehoben: Wörter aus dem Griechischen werden
kursiv dargestellt, Wörter aus dem Lateinischen werden
unterstrichen, Wörter aus dem Französischen werden kursiv gesetzt
und unterstrichen. Wörter aus dem Englischen werden fett markiert,
Wörter aus anderen Sprachen werden umrahmt. Da Namen und Ziffern in
diesem Kontext weniger bedeutsam sind, werden sie nicht extra
markiert, obwohl dies in der ursprünglichen Form der Fall war.
Spezifische
Probleme entstehen durch Eigennamen, die zunächst sprachlich eine
besondere Funktion haben, aber - aufgrund religiöser, politischer,
kultureller und heute auch ökonomischer Prozesse - oft aus anderen
Sprachen stammen. Bei Namen gibt es neben lateinischen, französischen
und englischen auch zahlreiche hebräische Wortursprünge; heutige
Namen haben oft auch eine Markenrolle und sind teilweise bei
Produktnamen gar der Fantasie entsprungen. Namen sollten deshalb
speziell markiert werden. Dies geschah mit der Farbe blau. Zahlen
fallen aus der Zählung; sie blieben auch bisher unmarkiert.
Das
Deutsche ist bekannt für seine Komposita. Sie können unter
Umständen aus einem (ehemaligen) Fremdwort und einem germanischen
Wort zusammengesetzt sein. In einem solchen Fall wurden die
Wortbestandteile entsprechend markiert; bei der Auswertung wurde das
Wort dann aber dem jeweiligen Fremdwort zugerechnet.
Die
visuelle Darstellung sollte einen direkten Eindruck über das Ausmaß
der Fremdwortnutzung im Deutschen ermöglichen. Die Reduktion auf 100
Wörter pro Beispiel erlaubt zudem eine besonders leichte
statistische Auswertung, die ebenfalls visuell dargestellt werden und
weitere Erkenntnis- und Interpretationsmöglichkeiten schaffen kann.
2 Umsetzung
Im
Folgenden seien die wichtigsten der herausgearbeiteten Tendenzen
anhand von Beispielen beschrieben und analysiert:
Beispiel 1:
Stefan Klein
„Das Leben nach dem Tod“ (Süddeutsche Zeitung, Montag, den 13.
Mai 2013, Seite 3), Textanfang (ab dem zweiten Absatz)
Erst
da bemerkt man, dass ein paar Reihen weiter hinten noch zwei andere
Besucher sitzen. Es sind zwei Frauen, und später erfährt
man, dass die ältere der beiden, eine Dunkelhaarige mit Brille,
Mladics Ehefrau ist.
Man sollte
meinen, dass auch der hartleibigste Angeklagte irgendwann merkt, dass
es ernst wird. Für Ratko Mladic ist dieser Zeitpunkt spätestens
jetzt gekommen, da man vor der Strafkammer des Jugoslawien-Tribunals
in Den Haag damit begonnen hat, die Rolle zu untersuchen, die er im
Juli 1995 im bosnischen Srebrenica gespielt hat.
Srebrenica, der
Ortsname steht für Genozid, für den Massenmord an mehreren
Tausend Muslimen, und wenn (...)
Abb.
1: Statistische Auswertung von Textbeispiel 1
Beschreibung
und Interpretation:
85
Wörter sind germanischen Ursprungs und können als klassische
deutsche Wörter verstanden werden. Ansonsten gibt es noch vier
Fremdworte aus den klassischen Sprachen Griechisch und Latein, wobei
die Etymologie des Wortes Brille recht komplex ist. Ins
Deutsche ist es über das Lateinische gekommen. Dort bezeichnet
beryllus, berillus ein spezifisches Mineral; bereits
zum Zeitraum der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit wurde es im
Deutschen aber als Oberbegriff für Kristalle verwandt
(Grimm & Grimm 1866, Stichwort Brille). Offenbar
bediente man sich bereits um 1300 geschliffener Halbedelsteine, um
Linsen herzustellen (Wiktionary. Stichwort Brille). Beryllus,
berillus scheint aber auch im Lateinischen nur ein Lehnwort
aus dem Griechischen gewesen zu sein (βήρυλλος). Da es
über das Lateinische ins Deutsche gelangt ist, wird es hier aber als
Wort mit lateinischem, nicht griechischem Ursprung gewertet.
Ein
Wort entstammt einer ,anderen Sprache’, in diesem Fall dem
Arabischen (Muslim). Dieses Wort wie die zahlreichen Namen mit
überwiegend slawischem, teilweise aber auch germanischem Ursprung
(vgl. den niederländischen Ortsnamen Den Haag) sind dem
Inhalt des Artikels geschuldet, der auf den Balkankonflikt
rekurriert. Ohne diese Namen (wie auch die Zahlenangabe) haben wir
eine deutliche Dominanz von rund 95 % deutschstämmiger Wörter.
Hinsichtlich der Ausgangsfrage kann festgestellt werden, dass in
dieser Textpassage kein Wort enthalten ist, das über das Englische
in die deutsche Sprache gelangt ist.
Beispiel 2:
Stefan Klein
„Das Leben nach dem Tod“ (Süddeutsche Zeitung, Montag, den 13.
Mai 2013, Seite 3), Textmitte
Da war er gerade
aus Srebrenica heimgekehrt und über ihm und seinen Kameraden war
eine Welle öffentlicher Empörung zusammengeschlagen. Die Medien
trompeten es heraus: Das sind die Versager, die das Massaker nicht
verhindert, vielleicht sogar befördert haben. Und dabei hatte es, im
Fall des Anne Mulder, wieder mal mit guten Absichten begonnen. Er war
25, hatte sein Wirtschaftsstudium beendet und sich freiwillig für
den Einsatz in Bosnien gemeldet, weil er dachte, Menschen zu
schützen, sei eine sinnvolle Sache.
Aber Mulder
merkte schnell, dass er auf einem verlorenen Posten gelandet war.
Diese
Hilflosigkeit habe ihn fertiggemacht, sagt er, die völlige
Unmöglichkeit (...)
Abb.
2: Statistische Auswertung von Textbeispiel 2
Beschreibung
und Interpretation:
In
dieser Textpassage finden sich 88 klassische deutsche Wörter. Die
Studierenden hatten Schwierigkeiten mit dem Wort Posten, das
bei Grimm & Grimm (1866, Stichwort Posten) lediglich
je einen mittelhochdeutschen und einen alemannischen Beleg erfährt
und auch im deutschen Wiktionary keinen Ursprungsbeleg hat, dort aber
in allen Übersetzungsvorschlägen außer in andere germanische
Sprachen (das Schwedische) anderslautende Belege erfährt. Die
Studierenden gingen daher zunächst von einem germanischen Wort aus.
Tatsächlich lässt sich der Begriff auf das Mittelhochdeutsche pfost
oder pfoste zurückführen, der wiederum auf den
althochdeutschen Begriff pfosto zurückreicht, welcher aber
vom Lateinischen postis übernommen
wurde. So handelt es sich in der Tat um ein sehr altes Lehnwort.
Schwierigkeiten dieser Art verdeutlichen, dass die etymologische
Arbeit mit Studierenden mit anderer Sprachherkunft nicht
unproblematisch ist, zumal nicht jede Recherchearbeit im Detail
rücküberprüft werden konnte. Dennoch ist davon auszugehen, dass
die problematischen Fälle im Unterricht erkannt und thematisiert
wurden und kaum ein oder gar kein Fehler in diese Auswertung gelangt
ist; zumindest dürfte das Ergebnis nicht signifikant verfälscht
worden sein.
Wir
haben überdies ein Kompositum (Wirtschaftsstudium), das aus
einem lateinischen und einem deutschstämmigen Wort zusammengesetzt
ist. Es wurde hier ebenfalls den lateinischen Wörtern zugerechnet.
Werden erneut Namen und Zahlen aus der Statistik entfernt, blieben
wieder deutlich über 90 Prozent deutschstämmiger Wörter;
diesmal finden sich in geringem Umfang Lehnwörter aus dem
Lateinischen und dem Französischen, erneut aber kein Lehnwort aus
dem Englischen.
Beispiel 3:
Christian
Zaschke, „Empire Burlesque“ (Süddeutsche Zeitung, Dienstag, den
14. Mai 2013), Textanfang (ab dem zweiten Absatz)
Seit nicht
einmal einer Woche sitzt das britische Parlament nach der
Osterpause wieder zusammen, und schon geht es in
Camerons Partei wieder drunter und drüber. Minister
widersprechen dem Chef öffentlich, Hinterbänkler
zetteln Aufstände an, ehemalige Tory-Granden
erschüttern in nonchalanter Brutalität den
Parteifrieden. Vermutlich pilgert die Opposition
jeden Tag geschlossen vom Parlament rüber zur Westminster
Abbey, zündet dort dankbar Kerzen an und betet, dass dieser
politische Irrsinn noch lange so weitergeht. Was kann es
Schöneres geben für Labour, als eine Regierungspartei, die
sich mit Wonne selbst zerfleischt? Die sich in einer Gründlichkeit
lächerlich macht, dass man glauben muss, die Lächerlichkeit wäre
(...)
Abb.
3: Statistische Auswertung von Textbeispiel 3
Beschreibung
und Interpretation:
81
Wörter wurden hier als klassisches deutsches Vokabular gewertet,
obwohl es erneut einige Diskussionspunkte gab. Insbesondere wurde
diskutiert, ob die adjektivische Ortsangabe britisch als
Ableitung eines Namens zu werten ist; hier fiel die Entscheidung
zugunsten der Namenskategorie.
Die
Etymologie des Wortes Kerze ist unsicher. In jedem Fall gibt es
bereits im Althochdeutschen die Begriffe cherzâ, charza und
charz, aber die weitere Herkunft scheint unklar zu sein;
möglicherweise handelt es sich um ein Lehnwort aus dem Lateinischen
candela,
Talglicht (Grimm & Grimm 1866, Stichwort:
Kerze). Da dies aber unsicher ist und
die ,deutsche Tradition’ zumindest sehr weit zurückreicht, haben
wir uns hier entschieden, ebenfalls ein ,klassisches deutsches Wort’
zu vermuten.
In dieser Textpassage gibt es dennoch
neun Wörter aus dem Lateinischen (Brutalität, Minister,
Opposition, Parlament (2x), Partei, pilgern
und Regierung) sowie vier Wörter aus dem Französischen
(Chef, Grande, nonchalant und Pause).
Erneut wurde diskutiert, ob Ostern als Namensnennung zu
bewerten ist. Da aber das Grundwort des Kompositums ein französisches
Wort ist, fällt es, unabhängig von der Diskussion über den Begriff
Ostern, gemäß der in der Einleitung dargelegten Definitionen
in der Zählung unter die französischen Vokabeln.
Pause
ist zwar schon mittelhochdeutsch nachweisbar, gelangte aber offenbar
über das altfranzösische pause
in die deutsche Sprache. Hier wurde noch diskutiert, wie die
altfranzösische Herkunft zu bewerten ist, da das Französische erst
nach dem Dreißigjährigen Krieg die untersuchungsrelevante Rolle des
Lateinischen als lingua
franca und damit als eine
das Deutsche maßgeblich beeinflussende Sprache eingenommen hat. Da
aber die Alternativvorschläge nicht überzeugten (Altfranzösisch
ist nicht mehr Latein, aber auch keine ,andere Sprache’), blieb es
bei der Subsumtion unter das Französische. Allerdings sollte die
Bewertung eingedenk dieser untersuchungsrelevanten Diskussion
erfolgen.
Da
sich der Zeitungsartikel mit dem Vereinigten Königreich befasst,
gibt es natürlich verschiedene Eigennamen, die alle Englisch sind.
Auf die Diskussion bezüglich der adjektivischen Nennung des
Ländernamens wurde bereits hingewiesen; im Zweifel wäre hier der
zugrunde liegende Begriff allerdings keltischen Ursprungs und
vermutlich über das Lateinische in die deutsche Sprache gekommen.
Auch Labour ist ein ,normales’ englischsprachiges Wort, hier
aber eindeutig ein Name. So haben wir erneut - und dies bei einem
Artikel, der von England handelt - kein englischsprachiges Wort
(jenseits der Namen). Dies fällt hier umso mehr auf, denn angesichts
der Tatsache, dass Englisch die erste Fremdsprache an deutschen
Schulen ist, die meisten Leser (zumal eines Blattes, das sich
tendenziell an ein gebildetes Zielpublikum wendet) also englische
Ausdrücke verstehen würden und mit Hilfe solcher Ausdrücke
Lokalkolorit erzeugt werden könnte, ist dies durchaus verblüffend.
Erneut deutet dies darauf hin, dass in der deutschen Alltagssprache
kaum bis keine englischsprachigen Ausdrücke verwandt werden.
Mehr
als vier von fünf Wörtern sind also Termini, die mindestens seit
dem Althochdeutschen kontinuierlicher Bestandteil des deutschen
Wortschatzes sind. Unter den Lehnwörtern dominiert erneut das
Lateinische, zudem ist das Französische präsent; das Englische
fehlt erneut, obwohl der Zeitungsartikel von England handelt.
Beispiel 4:
Christian Zaschke,
„Empire Burlesque“ (Süddeutsche Zeitung, Dienstag, den 14. Mai
2013), Textmitte
Das Kalkül
hinter der Rede war, zum einen der Ukip den Wind aus den Segeln zu
nehmen, zum anderen den europakritischen
Flügel seiner Partei
zu befrieden. Das schien zunächst zu funktionieren.
Cameron erhielt Lob für die Rede. Nur Nigel Farage grinste sein
Haifischgrinsen in die Kameras
und sagte: 'Jetzt geht die Debatte
erst richtig los.'
Vielleicht hätte Cameron
schon damals ahnen können, dass seine Rede unter keinem guten Stern
stand. Er hatte sie ursprünglich für 2012 angekündigt. Erst hieß
es, der Premier
werde im Herbst sprechen. Dann verlautete aus 10 Downing Street, er
werde sich gegen Ende des Jahres äußern.
Abb.
4: Statistische Auswertung von Textbeispiel 4
Beschreibung
und Interpretation:
83
Wörter sind deutschsprachigen Ursprungs (darunter auch das Wort Hai,
dass offenbar über das Isländische und das Niederländische in die
deutsche Sprache gelangte und etymologisch mit dem Wort Haken
zusammenzuhängen scheint) (Grimm &
Grimm 1866, Stichwort: Haken). Es gibt drei Wörter lateinischer
(funktionieren,
Kamera,
und Partei)
und vier Wörter französischer Herkunft (Debatte,
Kalkül,
kritisieren
und Premier).
Erneut findet sich – außer in Namen – kein englischsprachiges
Wort – erneut, obwohl der Artikel sogar von England handelt. In der
Tat scheint das Englische in deutschen Alltagstexten kaum eine Rolle
zu spielen.
Beispiel 5:
Thomas Fromm,
„Blech? Geh weiter!“ (Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, den 15. Mai
2013), Textanfang (ab dem zweiten Absatz)
Er stammt aus
einer Zeit, in der Diplomarbeiten auf mechanischen
Schreibmaschinen geschrieben wurden. Er
war vor vielen Jahren Leiter von etwas, das 'Hauptabteilung
Karosserierohbau' heißt. Deshalb kennt er sich in
Autofabriken gut aus, da wo es kracht, stinkt
und scheppert. Ach ja, und er ist einer, der im vergangenen Jahr viel
Geld verdient hat. 6,6 Millionen Euro.
Er ist BMW-Chef, und er ist jetzt auch schon 56. Man kann sagen: Norbert Reithofer ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Das heißt aber auch: noch ein paar Jahre, dann war es das für ihn.
Er ist BMW-Chef, und er ist jetzt auch schon 56. Man kann sagen: Norbert Reithofer ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Das heißt aber auch: noch ein paar Jahre, dann war es das für ihn.
Warum also tut
er sich das an?
Es (...)
Abb.
5: Statistische Auswertung von Textbeispiel 5
Beschreibung
und Interpretation:
In
dieser Textpassage finden sich 83 klassische deutsche Wörter. Es
gibt zwei griechischstämmige Wörter (das Adjektiv mechanisch
sowie das Kompositum Diplomarbeit), drei lateinischstämmige
(Fabrik, Millionen sowie zwei Formen des Verbs
schreiben) und fünf französischstämmige Wörter
(Auto, Chef, Karriere, Karosserie und
Maschine), wobei es zwei Komposita gibt, die aus je einem
lateinisch- und einem französischstämmigen Wort zusammengesetzt
sind (Schreibmaschiene und Autofabrik), so dass sich
hier die Entscheidung der Zuordnung aufhebt. Schließlich weist der
Text vier Namen auf (BMW, Euro und Norbert Reithofer),
zudem gibt es zwei Zahlen. Auch hier findet sich kein Wort englischer
Herkunft, obwohl auch hier die Thematik - Automobilfabrikation –
gegebenenfalls entsprechende Termini erwarten ließe.
Beispiel 6:
Thomas Fromm,
„Blech? Geh weiter!“ (Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, den 15. Mai
2013), Textmitte
Leicht. Leichter
als Stahl, aber genauso fest. Das Wundermaterial, aus dem BMW
seine neuen leichten Elektroautos bauen will.
Autos ohne Blech. Der Beginn einer neuen Zeitrechnung,
mehr als 125 Jahre nach der Erfindung des Autos.
Der Überbringer
der frohen Botschaft heißt Harald Krüger und ist Vorstand bei BMW,
zuständig für Produktion. Einer, von dem einige sagen, er
könnte mal BMW-Chef werden. Jung genug dafür ist er.
Und vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet er in ein
Leipziger Hotel gekommen ist, um von der Ankunft des
neuen Autos zu berichten. Er hat einen weißen
Stehtisch, auf dem faltet er seine (...)
Abb.
6: Statistische Auswertung von Textbeispiel 6
Beschreibung
und Interpretation:
85
Wörter werden als klassisches deutsches Vokabular gewertet. Zwei
Wörter stammt aus dem Lateinischen (Material und Produktion,
sechs Wörter aus dem Französischen (Auto (4x), Chef
und Hotel). Dabei muss in Betracht bezogen werden, dass ein
Begriff - Auto, ein Begriff griechischer Herkunft, der aber als
französisches Lehnwort die deutsche Sprache erreicht hat (wo es seit
Ende des 19. Jahrhunderts für mit Pressluft betriebene Straßenbahnen
benutzt wurde, die man erstmals als voitures automobiles, also
selbstbewegende Wagen bezeichnet hat) - viermal benutzt wird, was
inhaltliche Gründe hat: Der Artikel handelt vom Automobilbau. In der
Folge wird das Wort auch viermal gezählt. Ohne diese Mehrfachnennung
wäre das Französische schwächer vertreten. Die sechs Namen führen
dazu, dass die Anzahl der hier gezählten deutschen Wörter etwas
geringer ist; ansonsten wären mehr als neun
von zehn Wörtern als klassisches deutsches Vokabular zu bewerten.
Erneut findet sich, obwohl es sich um einen technikaffinen Artikel
aus der Automobilbranche handelt, kein englischstämmiges Lehnwort.
Beispiel 7:
Cornelius
Pollmer, „Team Karamba“ (Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, den
16. Mai 2013), Textanfang (ab dem zweiten Absatz)
Die
Gartenfreunde haben Karamba Diaby gebeten, ein Grußwort zu sprechen.
Also beginnt der Schwarzafrikaner vor 50 weißen Kleingärtnern einen
kurzen Vortrag, und er erklärt gleich mal zu Beginn, 'warum
ausgerechnet ich mich zur Zukunft des Kleingartenwesens äußern
möchte'.
Es gibt dafür
zwei Gründe. Zum Einen ist Diaby promovierter Chemiker
und Geoökologe, seine Doktorarbeit hat er über die
Schwermetallbelastung von Kleingärten in Halle an der Saale
geschrieben. Zum Anderen möchte Dr. Karamba Diaby im Herbst
in den Bundestag einziehen, als erster Abgeordneter überhaupt, der
in Afrika geboren wurde. Eigentlich sind das zwei Geschichten. Die
des Kommunalpolitikers Karamba Diaby, der unbedingt in
(...)
Abb.
7: Statistische Auswertung von Textbeispiel 7
Beschreibung
und Interpretation:
81
Wörter werden hier als klassisches deutsches Vokabular gewertet.
Vier Wörter sind griechischer Herkunft (Chemiker, Geoökologe,
Metall und Politiker), darunter ein Kompositum
(Geoökologe), das zudem ein lateinisches Lehnwort enthält.
Zudem gibt es drei weitere lateinische Wörter (Doktor,
kommunal, und promovieren), wobei die Abkürzung Dr.
der Bezeichnung Doktor zugerechnet wird. Die Anzahl der im
Text verwendeten Namen ist mit elf Fällen ausgesprochen hoch. Der
fremdsprachige Anteil liegt hier bei über 90 Prozent; dieser
statistische Wert liegt jedoch auch am hohen Anteil von Namen in
diesem Artikel. Es gibt kein französischstämmiges und erneut kein
englischstämmiges Wort.
Beispiel 8:
Cornelius
Pollmer, „Team Karamba“ (Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, den
16. Mai 2013), Textmitte
Fikentscher war
es auch, der die Wahl Diabys auf Platz 3 der Landesliste für
die Bundestagswahl einfädelte. Diaby holte im Dezember 60
Prozent gegen einen Kinderarzt und
Ortsvereinsvorsitzenden. Wenn die SPD dieses Mal nicht noch einmal
schlechter abschneidet als 2009, dann reicht das für den Bundestag.
Dafür kämpfen sie jetzt, der Kandidat und sein 'Team
Karamba'.
Der Kandidat
steht jeden Morgen um 5.30 Uhr auf, er nimmt jeden Tag den
Intercity um 7.07 Uhr nach Magdeburg, wo er als Referent
im Ministerium für Arbeit und Soziales arbeitet. 40
Stunden die Woche, er erfüllt sein Soll, aber bei den Kollegen
entsteht (...)
Abb.
8: Statistische Auswertung von Textbeispiel 8
Beschreibung
und Interpretation:
Diese
Textpassage hat den bislang mit Abstand geringsten Anteil
deutschstämmiger Wörter (73). Zudem finden wir hier zum ersten Mal
ein englischsprachiges Wort: Team. In der Auszählung taucht
sogar ein weiteres englischsprachiges Wort auf: Intercity.
Hier war die Diskussion, ob es sich in diesem Fall nicht um einen
Namen (beziehungsweise eine Marke) handele, oder ob das Wort
metonymisch genutzt wird. Offenbar überwiegt die Markenbedeutung,
allerdings handelt es sich zweifellos um einen Grenzfall.
Wenn
die sieben Namen und sechs Zahlen aus der Liste gerechnet würden,
wäre auch der Anteil der deutschstämmigen Wörter wieder bei
deutlich über 80 Prozent. Allerdings findet sich in dieser
Textpassage auch ein relativ hoher Anteil lateinischer Wörter (11):
Arzt, Dezember, Kandidat (2x), Kollegen,
Ministerium, Prozent, Referent, Soziales
und Uhr (2x). Der Platz ist offenbar über das
Französische ins Deutsche gelangt, während die Liste über
das Italienische lista ins Deutsche kam und demzufolge hier
unter die Rubrik von Wörtern mit einer Herkunft aus einer anderen
Sprache subsumiert wird.
Beispiel 9:
Holger Gertz,
„Länderspiel“ (Süddeutsche Zeitung, Freitag, den 17. Mai 2013),
Textanfang (ab dem zweiten Absatz)
Man kann sie an
warmen Tagen im Stadion tragen, aber Dr. med. Helmut
Grosch, Oberarzt für Allgemein- und Viszeralchirurgie,
fand es angebracht, sie am Arbeitsplatz überzuziehen.
Die Mütze - es ist eher eine Haube - touchierte einen
Grenzbereich. 'Wir müssen, als Arzt, ein gewisses
Neutralitätsgebot in jeder Hinsicht befolgen', sagt Grosch.
Allerdings hatte er vor Jahren bei einer Hospitanz mal einen
Arzt kennengelernt, der eine US-Flagge um den Kopf gebunden
trug, ein Präzedenzfall.
Im Fall Grosch
gab es einen Anlass; ein Ereignis, das stärker war als jedes
Neutralitätsgebot. Borussia Dortmund hatte im Halbfinale
der Champions League die Mannschaft von Real (...)
Abb.
9: Statistische Auswertung von Textbeispiel 9
Beschreibung
und Interpretation:
In
dieser Textpassage finden sich 75 deutsche Wörter, erneut ein
relativ geringer Anteil. Wieder gibt es relativ viele lateinische
Wörter, was mit der Thematik zusammenhängt: In dieser Passage wird
ein Arzt beschrieben, und ein Großteil des medizinischen Vokabulars
stammt aus dem Lateinischen. Zudem haben wir erneut viele Namen. Ohne
sie läge der Anteil der deutschen Wörter deutlich über 80 Prozent.
Es
wurde diskutiert, ob die Champions League ein
englischsprachiger Begriff ist - dann hätten wir hier die zweite
Passage aus dem gesamten Korpus mit einem englischsprachigen Ausdruck
-, oder ein Name. Hier ist die Entscheidung, im Gegensatz zum
Intercity des zuvor dargestellten Textes, eindeutig zugunsten
des Namens beziehungsweise der Marke ausgefallen. Somit weist auch
dieser Text kein im engeren Sinn englischsprachiges Wort auf.
Beispiel 10:
Holger Gertz,
„Länderspiel“ (Süddeutsche Zeitung, Freitag, den 17. Mai 2013),
Textmitte
Es gibt vieles,
was einen Dortmunder irritiert, wenn er an den FC Bayern
denkt. Wenn der Dortmunder an Borussia denkt, irritiert ihn
wenig. Was ihn irritiert, hat wieder mit einer Mütze zu tun,
eine Mütze mit der Aufschrift Pöhler, die Dortmunds Trainer
Jürgen Klopp gelegentlich trägt. Pöhler, so heißen in Dortmund
Straßenfußballer. Neuerdings sitzt die Pöhler-Mütze
allerdings auf einem Kopf, der für viel Geld mit einer
Echthaartransplantation in Schuss gebracht worden ist.
Das ist ein
schon nicht einmal zarter Hinweis darauf, dass dieser Klassenkampf
nicht zuletzt sehr stilisiert ist.
Die Stadt
Dortmund mag arm sein, die Borussia aber ist es (...)
Abb.
10: Statistische Auswertung von Textbeispiel 10
Beschreibung
und Interpretation:
78
Wörter werden als klassisches deutsches Vokabular gewertet. Erneut
gibt es sehr viele Namen und Bezeichnungen; ohne sie läge der Anteil
deutscher Wörter sogar über 90 Prozent.
In
dieser Textpassage findet sich erneut ein englisches Wort: Trainer.
Es handelt sich damit mit Ausnahme von Namen und Marken, die
gegebenenfalls Grenzfälle darstellen um das zweite englische Wort
dieses Korpus. Insgesamt spielen damit englischsprachige Wörter, vor
allem im Verhältnis zu Wörtern aus den klassischen Sprachen
Griechisch und Latein sowie aus dem Französischen, so gut wie keine
Rolle.
Aus
dem Griechischen finden wir eine Vokabel (stilisiert), aus dem
Lateinischen sechs (irritieren (3x), Klasse, Transplantation
sowie Straße). In dieser Passage gibt es erstmals keinen
französischstämmigen Ausdruck.
Beispiel 11:
Willi Winkler,
„Wenn Füße sich wundern“ (Süddeutsche Zeitung, Samstag, den
18. Mai 2013), Textanfang (ab dem zweiten Absatz)
Mit zwanzig
verließ er seine Heimatstadt, um Ritter zu werden und Krieg zu
führen, dann, nach seiner Bekehrung, um ein einfaches Leben zu
führen und Mönch zu werden. Er scharte bald Anhänger um
sich, die sich ihrerseits überall ansiedelten und seiner geistlichen
Betreuung bedurften. Als es dem Papst gefiel, die
waffenfähigen Christen auf einen weiteren Kreuzzug
gegen die Ungläubigen zu schicken, zog der ehemalige Soldat
eifrig mit nach Ägypten und Palästina und predigte zeitgemäß
Feuer und Schwert. 1219 erschien er vor dem Sultan Al-Kamil, um den
Muslim zum Christentum zu bekehren, leider vergeblich.
Die Wege waren
seinerzeit wenig wegsam, und (...)
Abb.
11: Statistische Auswertung von Textbeispiel 11
Beschreibung
und Interpretation:
In
dieser Textpassage finden sich 87 deutsche Wörter - wieder ein
relativ hoher Anteil. Aus den klassischen Sprachen finden sich zwei
griechische (die beiden Varianten Christen und Christentum)
und vier lateinische Wörter (Kreuz, Mönch, Papst
und Soldat), zudem gibt es zwei arabische Wörter (Muslim
und Sultan), die hier unter der Kategorie ,andere Sprachen’
firmieren. Es gibt vier Namen beziehungsweise Namensbestandteile und
eine Zahl. Erneut findet sich kein englisches Wort, aber auch kein
Wort mit französischer Herkunft.
Beispiel 12:
Willi Winkler,
„Wenn Füße sich wundern“ (Süddeutsche Zeitung, Samstag, den
18. Mai 2013), Textmitte:
Im Buch der
Kapelle Santa Maria della Ripa haben sich Michaela und Johanna
mit den Worten eingetragen: 'Wir beten mit den Füßen und singen mit
dem Herzen.' Sie folgen dem Hl. Franz, der nie müde wurde, das Lob
der Schöpfung zu singen, der mit einer beinah masochistischen
Daseinsfreude alle Widrigkeiten willkommen hieß und sich in allem
dem Schicksal unterwarf.
Eine echte
imitatio francisci wäre zu viel verlangt; die Wundmale
an den Füßen reichen schon. Aber auf dieser Reise treffen im
franziskanisch unruhigen Wandergeist Rekordsüchtige,
Herzpatienten, Anbändler, Trödler und Offenbarungssüchtige
aufeinander. Niemand weiß vorher vom anderen, nur die gemeinsame
Pilgerfahrt verbindet (...)
Abb.
12: Statistische Auswertung von Textbeispiel 12
Beschreibung
und Interpretation:
Dies
ist der Text mit der geringsten Sprachvarianz: Es finden sich nur
deutsche (84) und lateinische (7) Ausdrücke (francisci,
imitatio,
Kapelle,
Mal,
Patient,
Pilger
und Rekord).
Andere Sprachen kommen nicht vor, mithin weder Französisch noch
Englisch. Zum ersten Mal findet sich allerdings auch ein Ausdruck,
der grammatikalische Regeln einer anderen Sprache - des Lateinischen
- übernimmt: imitatio francisci.
Der Genitiv francisci
bezieht sich dabei auf den Namen Franciscus,
der ansonsten auch der deutschen Grammatik unterworfen wird, etwa als
Adjektiv franziskanisch.
Die Nutzung eines Namens zur Wortbildung finden wir auch bei
masochistisch.
Hier ist eine metonymische Wortbedeutung anzunehmen, so dass dieser
Begriff als deutscher Ausdruck gewertet wird, nicht als Name. Dennoch
gibt es auch hier, wie in allen Texten des Korpus, recht viele Namen
(9).
3 Gesamtinterpretation
Nochmals
muss betont werden, dass die Darstellung zunächst aus didaktischen
Erwägungen und dem Wunsch einer medial möglichst überzeugenden
Darstellung entstanden ist, zunächst jedoch nicht dem Wunsch
entsprang, eine empirische Studie zu erstellen. Offensichtlich war
die Vorgehensweise didaktisch sinnvoll - wie allerdings nur subjektiv
aus den Reaktionen der Teilnehmer geschlossen werden kann. Zudem
erschien uns das Resultat aber auch inhaltlich von Interesse zu sein.
Im Folgenden sollen das Vorgehen und vor allem das inhaltliche
Ergebnis der Untersuchung vorgestellt werden.
Insgesamt
finden sich im gesamten Korpus aus exakt 1.200 Wörtern - der, so
wird unterstellt, das aktuelle Deutsch in einer allenfalls leicht
elaborierten Variante widerspiegelt, da er aus Zeitungsreportagen
einer Qualitätszeitung besteht - lediglich zwei englischstämmige
Vokabeln. Der Anteil der Anglizismen ist also verschwindend gering.
Von einer diesbezüglichen Bedrohung des Deutschen kann somit aus
dieser Perspektive keine Rede sein.
Hinsichtlich
der Lehnwörter dominiert mit weitem Abstand das Lateinische, gefolgt
vom Französischen und vom Griechischen, was - zumindest teilweise -
von der Thematik abhängt: In manchen Fachsprachen gibt es einen
ausgeprägteren griechischen Wortschatz. Bezüglich der Grammatik -
die hier aber kein explizites Untersuchungsthema war - wurde in einem
Fall eine Übernahme lateinischer Grammatikregeln beobachtet, jedoch
als Zitat. Obwohl eine Reportage explizit von England handelte und es
dort zum Lokalkolorit gepasst hätte, neben englischen Ausdrücken
auch englische Satzphrasen in den Artikel zu integrieren, ist dies
dort gänzlich unterblieben. Auch diesbezüglich konnte keine
Bedrohung des Deutschen beobachtet werden.
So
bleibt als Gesamteindruck, dass das Deutsche, entgegen der Klischees
und Vorurteile, zumindest im Rahmen journalistischer Texte
(Reportagen) recht fremdwortresistent ist. Möglicherweise ist
dies bei anderen Textsorten - etwa der Wissenschaftssprache oder der
Werbesprache, der Sprache der Mode, gegebenenfalls auch der aktuellen
Sprache der Technik – anders. Hierzu müssten weitere
Untersuchungen folgen. Der vorliegende Beitrag entstammte ja
didaktischen Erwägungen, nicht jedoch einem Forschungsvorhaben.
Eine
Bedrohung des Deutschen liegt auf der Basis der vorliegenden Daten
zweifellos nicht vor - weder im Hinblick auf den Wortschatz noch im
Hinblick auf die Grammatik. Die ,gefühlte’ Gefahr für das
Deutsche entspricht somit allem Anschein nach nicht der Realität.
Die Resistenz bezieht sich offenbar auch nicht nur auf den
Wortschatz. Insgesamt waren die polnischen Studierenden - auch
angesichts der zitierten Klagen - über das Ergebnis sehr überrascht.
Der didaktische Zweck konnte also uneingeschränkt erreicht werden.
Die visuelle Darstellung war medienadäquat, inhaltlich angemessen
und sinnvoll.
Bibliographie
Primärliteratur
Fromm, Thomas
(15.05.2013). Blech? Geh weiter! Der Münchner BMW-Konzern macht
Rekordgewinne. Aber Zahlen sind tückisch. Der Autobauer erfindet
sich deshalb neu. Chef Norbert Reithofer setzt radikal auf
Elektromobilität und Carbon. Ein Risikobericht aus der deutschen
Industrie. In: Süddeutsche Zeitung, 15.05.2013, 3.
Gertz, Holger
(17.03.2013). Länderspiel. Geht es bei dem Finale der Bayern gegen
Dortmund um Fußball? Na ja, unter anderem. Ein paar Nachfragen, bei
einem beseelten Chirurgen und einem großen Filmemacher. In:
Süddeutsche Zeitung, 17.05.2013, 3.
Klein, Stefan
(13.05.2013). Das Leben nach dem Tod. In Srebrenica ermordeten Serben
1995 Tausende Bosnier. Holländische UN-Soldaten ließen das
geschehen. Bis heute quält es sie, versagt zu haben. Drei von ihnen
erzählen ihre Geschichte. In: Süddeutsche Zeitung,
13.05.2013, 3.
Pollmer,
Cornelius (16.05.2013). Team Karamba. Karamba Diaby, vor 51 Jahren im
Senegal geboren, will in den Bundestag: Sein Wahlkreis ist im Osten
Deutschlands – in Halle an der Saale. Der Kandidat hat ziemlich
gute Chancen. Allerdings zappelt er bis auf Weiteres auch in einem
Netz aus Klischees und Skurrilitäten. In: Süddeutsche Zeitung,
16.05.2013, 3.
Winkler, Willi
(18.05.2013). Wenn Füße sich wundern. Den Jakobsweg kennt jeder.
Aber den Franziskusweg? Dabei ist er hochaktuell. Eine brettharte
Pilgerreise – durchs arkadische und dabei immer weltliche Italien.
In: Süddeutsche Zeitung, 18.05.2013, 3.
Zaschke,
Christian (14.05.2013). Empire Burlesque. Das Königreich
Großbritannien im Ausnahmezustand: Die Konservativen zerlegen ihren
Premier. Es geht um das große, alte Thema – Europa. Die Opposition
kriegt sich vor Freude kaum ein. In: Süddeutsche Zeitung,
14.05.2013, 3.
Sekundärliteratur
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